"Die illegalen Pflege-Engel
Starnberg – Anna, 65, aus Ungarn pflegt seit 15 Jahren Senioren in Deutschland. Gerade kümmert sie sich um eine Dame am Starnberger See. Schwarz, rund um die Uhr. Damit ist Anna eine von 150 000 Frauen aus dem Ausland, ohne die unser Pflegesystem kollabieren würde. Wenn Besuch kommt, stellt Anna* das japanische Teeservice und eine Silberkanne voll Schwarztee auf den Tisch. Dann setzt sich die 65-Jährige auf das grüne Samtsofa, gegenüber stehen Goethes Gedichtbände. Ein Wohnzimmer am Starnberger See. Anna ist hier nicht zu Hause. Sie betreut Frau Siebert, die 93 Jahre alt ist und seit einem Sturz eine Halskrause trägt. Bis sie sich wieder erholt hat, ist Anna 24 Stunden, sieben Tage in der Woche für sie da. Nur das Finanzamt darf davon nichts wissen, denn Anna arbeitet schwarz.
Anna kommt aus Ungarn, spricht aber fließend Deutsch, weil sie der deutschen Minderheit dort angehört. Die Frau mit den kurzen grauen Haaren ist selbst schon Oma. Doch weil ihre karge Rente in Ungarn nicht ausreicht, hilft sie bei Frau Siebert im Haushalt. Seit 15 Jahren kommt sie immer wieder nach Deutschland.
„Es ist immer anstrengend, ein Gefühl für die fremde Person zu bekommen“, sagt Anna und lächelt unsicher. Obwohl sie erst seit kurzem im Haushalt lebt, scheint es diesmal gut zu klappen.
Frauen wie Anna arbeiten in rund 100 000 deutschen Haushalten. Wenn es sie nicht gäbe, wäre für viele alte Menschen der Weg ins Heim unausweichlich, denn schon jetzt fehlen in Deutschland 80 000 Pflegekräfte. Laut Statistischem Bundesamt gibt es über 2,5 Millionen Pflegebedürftige. Der überwiegende Teil will zu Hause alt werden und wird auch zu Hause versorgt, von der eigenen Familie. Doch Pflege zehrt an den physischen und psychischen Kräften und viele holen sich irgendwann Hilfe. Meist durch Frauen aus Osteuropa, die keine abgeschlossene Pflegeausbildung haben, sondern als Haushaltshilfe eingestellt werden, weil das günstiger ist. Sie putzen, kochen und helfen beim Anziehen, kaufen ein und schauen mit ihren Schützlingen fern.
Das Telefon klingelt zum dritten Mal. Anna springt zum dritten Mal auf. Es ist Frau Sieberts Weinhändler. Doch die winkt ab: „Der Keller“, sagt sie, „ist noch voll.“
Anna bekommt von Frau Siebert 1800 Euro für vier Wochen. Danach will sie wieder nach Hause zu ihren Kindern. Ihre Tochter ist alleinerziehend, der Sohn ist arbeitslos. Keiner von beiden kann sie unterstützen. Doch am meisten fehlt ihr der siebenjährige Enkelsohn. Beim letzten Abschied war der Kleine schwer enttäuscht. Denn normalerweise verbringt er die Nachmittage bei seiner Oma, verkleidet sich als Ritter oder als Detektiv Emil aus Kästners Romanen.
Wenn Anna wieder nach Hause fährt, vermittelt ihre Bekannte Réka Frau Siebert eine neue Kraft. Dafür zahlen die Helferinnen, nicht Frau Siebert. Ihr Mann ist früh gestorben. Die ungarische Rente reicht gerade aus, um die Rechnungen zu bezahlen. Zum Leben bleibt nichts. „Wenn man halt muss“, sagt Anna und meint damit die Arbeit bei Frau Siebert. Durch Jobs wie diesen muss sie nach 28 Jahren Arbeit in einem Lebensmittelladen nicht jeden Forint umdrehen.
Das klingt zunächst nach einer Situation, von der beide Seiten profitieren. Doch wenn Frau Siebert einmal nicht zahlt, kann Anna ihr Gehalt nicht einklagen. Und wer schwarz arbeitet, ist nicht versichert. Sie ist abhängig. Und auch Frau Siebert droht im schlimmsten Fall ein hohes Bußgeld, weil sie Anna nicht angemeldet hat. Deshalb wünschen sich viele Familien einen legalen Weg, eine 24-Stunden-Kraft anzustellen. Und das möglichst bezahlbar. Die meisten Familien entscheiden sich für eine Vermittlungsagentur, weil es am bequemsten ist. Über 80 dieser Agenturen gibt es mittlerweile in Deutschland.
Eine davon ist „vis-a-vis24“, sie gehört der Augsburgerin Carmen Roth. Ihr Büro befindet sich in einer Villa im Augsburger Textilviertel. Unter Stuckdecken vermittelt die gebürtige Rumänin mit dem blonden Kurzhaarschnitt Frauen aus Bulgarien, Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien in 120 Familien. Sie arbeitet mit dem Entsendeprinzip. Das heißt, die Betreuerin ist im Heimatland bei einer Agentur angestellt und wird für jeweils drei Monate nach Deutschland geschickt. Mehr geht nicht, sonst müssten die Frauen hier Steuern zahlen. Deshalb wechseln sich durchschnittlich vier Betreuungskräfte pro Familie ab. Roth fungiert dabei nur als Mittlerin. Die Familien zahlen für ihre Dienste mindestens 2200 Euro, bei der Frau kommen – je nach Deutschkenntnissen und Ausbildung – ungefähr 1200 Euro an. Der Rest geht für Sozialabgaben, Versicherungen und die zwei Agenturen drauf.
Nach über fünfzehn Jahren in der Pflegebranche kennt Roth das Drama, das sich in vielen Familien hinter verschlossenen Türen abspielt. Die Frauen aus Osteuropa sind oft die letzte Rettung. „Kein Deutscher würde für derartige Löhne arbeiten“, sagt sie. Und: „Diese Frauen sind die Heldinnen unserer Zeit.“ Ohne sie würde das System zusammenbrechen.
Agenturen wie die von Roth schaffen ein Angebot, um die Betreuungskräfte aus der Schwarzarbeit zu holen. Doch auch sie bewegen sich im rechtlichen Graubereich. Zum Beispiel bei der Bezahlung: Seit Januar 2015 gilt der branchenübergreifende Mindestlohn, die Frauen müssen eigentlich 8,50 Euro pro Stunde verdienen. „Für uns ist das eine Tragödie“, sagt Roth. Denn wo fängt die Arbeit an? Zählt das gemeinsame Fernsehen dazu, oder ein Spaziergang?
Würde man die Betreuerinnen pro Stunde bezahlen, könnte sich das keine Familie leisten. Deshalb lässt Roth die Pflegerinnen jetzt jede Tätigkeit einzeln dokumentieren und abrechnen: 20 Minuten waschen, zehn Minuten Frühstück, 30 Minuten einkaufen. Am Ende kommen genau so viele Stunden heraus, dass sich an der Gehaltsabrechnung nichts ändert. Eine bürokratische Farce.
Zudem lockt die rechtliche Unklarheit schwarze Schafe auf den Markt. Pflegeforscher Michael Isfort kennt ihre Praktiken: Manche Agenturen verpflichten die Frauen zur Verschwiegenheit. Nicht mal die Angehörigen der Pflegebedürftigen dürfen erfahren, wieviel Geld wirklich bei ihrer Betreuerin ankommt. Oder die Agentur verlangt Geld von den Frauen zurück, wenn die Familie nicht zufrieden ist. „Das ist natürlich aberwitzig”, sagt Isfort. „So ein Vertrag könnte vor einem deutschen Gericht nicht bestehen.”
Klar ist auch: In Deutschland darf eigentlich niemand 24 Stunden arbeiten. Aber oft müssen die Betreuerinnen auch in der Nacht aufstehen, wenn der Pflegebedürftige auf die Toilette muss oder Schmerzen hat. Wie lange die Frauen tatsächlich im Einsatz sind, kann der Staat nicht kontrollieren.
Wenn Anna morgens um 5.45 Uhr aufsteht, sieht sie den Starnberger See. Er hängt als postkartengroßes Stickbild an der Wand. Dann geht sie aus ihrem kleinen Dachzimmer die Treppen hinunter zu Frau Siebert, die jeden Tag um 6.15 Uhr vom ambulanten Pflegedienst ihre Insulinspritze bekommt. Eigentlich wird sie um diese Uhrzeit von Frau Siebert noch nicht gebraucht, aber Anna steht trotzdem parat. „Ohne mich sitzt sie sonst alleine in der Küche“, sagt sie mit ihrem warmherzigen Lächeln. „Ich bin auch da, um Gesellschaft zu leisten.“
Die Mitarbeiter des Pflegedienstes wissen über Annas Schwarzarbeit Bescheid und pflegen mit ihr Hand in Hand. Eine Situation, die durch die Politik geduldet wird. Weil sie geduldet werden muss, damit das Pflegesystem nicht kollabiert.
Doch ein Problem bleibt: Die Deutschen wollen zu Hause alt werden, aber keiner will für Annas Gehalt ihre Arbeit machen. Stattdessen werden Löcher in die Altersversorgung der osteuropäischen Länder gerissen. Denn wer hier pflegt, fehlt zu Hause. Wenn man Anna fragt, wer sich um sie kümmert, wenn sie mal 93 ist, sagt sie: „Hoffentlich meine Kinder.“
Elisa Harlan, Julia Ley und Simone Stern" https://www.merkur.de/lokales/starnberg/illegalen-pflege-engel-betreuerinnen-osteuropa-4816947.html
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